Foto: Hinrich Carstensen

Kunst, Koks und Konzerte – so war’s beim Dockville 2013

Vorschot, Maschinenraum, Butterland und Torte? Hinter dieser vermeintlichen Mischung aus Seemans-Slang, Industriekomplex, Lewis Carrols‘ Wunderland und Konditorei verbergen sich in Wahrheit die originellen Bühnenbezeichnungen des Dockville Festivals, das heute Morgen am Reiherstieg Hauptdeich in Hamburg-Wilhelmsburg zu Ende ging.

 

Genauso phantasievoll und abwechslungsreich wie die Bühnennamen gestaltet sich auch der Rest der Festivallocation: Drei Tage lang tanzen 25.000 Gäste vor industrieromantischer Hafenkulisse, ruhen sich im bewaldeten Campingplatz unter Lichterketten für ein paar Stunden aus oder bestaunen die Exponate der zum Dockville gehörenden Open-Air Ausstellung Ms Dockville Kunstcamp.

Trotz all dieser Detailverliebtheit, die das Gelände auszeichnet, beginnt das Festival (zumindest zu Zeiten der freitagnachmittäglichen Rushhour) für viele Besucher dank organisatorischen Problemen etwas unerfreulich: in der Zeit, die während des Anstehens vor der Bändchenvergabe, dem Betreten der Brücke vor dem Gelände (die über längere Zeiträume gesperrt ist) und dem Warten vor der Einlasskontrolle vorbeizieht, kann man schon mal diverse Bands verpassen, denn unter drei Stunden geht das Prozedere bei kaum jemandem vonstatten. Mighty Oaks, Reptile Youth, Toy und viele andere Acts ziehen daher ungehört vorbei, während man selbst tatenlos und mit Campingzeug beladen auf der Stelle harrt.

Los geht’s dann aber endlich am frühen Abend auf der Mainstage mit den drei kalifornischen Schwestern von Haim, deren Auftritt eine komprimierte Version des ausverkauften Konzerts im Berliner Lido zwei Tage zuvor darstellt: solide und dynamisch, aber mit deutlich weniger Publikumsinteraktion bieten die jungen Damen bei ihrem einzigen Festivalauftritt in Deutschland ihren Mix aus R’n’B und Folk-Rock dar und werden vom Publikum gebührend abgefeiert. Im Maschinenraum spielt im Anschluss Geheimtipp Rangleklods. Esben Anderssen (live unterstützt von Sängerin und Lebensgefährtin Pernille) verzichtet zwar seit jeher fast gänzlich auf Promo, irgendwie scheint sein grandioser, emotionaler Elektro-Pop aber trotzdem zu einer ganzen Menge Dockville-Besucher durchgedrungen zu sein, die textsicher beinahe jeden der Songs mitsingen. Dank Theremin-ähnlichem Sensor erzeugt der Däne Klänge durch bloße Handbewegung, spielt als einer der wenigen Acts des gesamten Festivals gleich mehrere Zugaben und scheint die euphorischen Publikumsreaktionen selbst nicht so ganz fassen zu können: „Hätte ich fünf Alben, würde ich ewig weiterspielen“, erklärt er lachend.

Headliner Foals hingegen enttäuschen auf ganzer Linie. Nach dem – pardon – reichlich lahmarschigen – Zweitwerk „Total Life Forever“ verlor sich das neuste Album „Holy Fire“ glücklicherweise nicht in komplexen Klangsphären und bot wieder mehr Tanzbarkeit und weniger verkopften Math-Rock. Live ist von dieser Rückbesinnung auf „Antidotes“-Zeiten leider wenig zu spüren: Das ganze Konzert wirkt lust- und energielos, ist viel zu leise, einschläfernd, kurzum sterbenslangweilig. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich Frontmann Yannis Philippakis mit hochgeschnürter Gitarre bei Clubkonzerten derart verausgabte, dass er sich nach zwei Songs schweißgebadet ins Publikum warf. Foals haben das Fohlen-Alter hinter sich gelassen und werden ihrem Headliner-Slot auf dem Dockville nicht gerecht. Die Band serviert an diesem Abend lediglich wohldosierte Kostproben ihres eigentlichen Könnens und verzichtet in ihrer Setlist – sehr zur Enttäuschung des Publikums – auf Hits wie „Cassius“ oder „Balloons“.

Samstag: Vater, Mutter Kind und Sonnenschein

Trotz gegenteiliger Wetterprognosen beginnt auch der Samstag auf der Elbinsel mit strahlendem Sonnenschein. Nichts anderes verdient hat die Familienkombo Kitty, Daisy & Lewis bestehend aus den gleichnamigen Twentysomething-Geschwistern sowie deren Eltern Ingrid Weiss und Graeme Durham. Vater, Mutter, Kind(er) auf der Bühne? Hört sich zunächst befremdlich an, funktioniert im Fall der britischen Band samt ihrer Melange aus Swing, Blues, 60s-Rock’n’Roll und Country sowie ausgefallen Bühnenoutfits aber ganz fantastisch.

Crystal Fighters-Sänger Sebastian Pringle trägt im Anschluss Dutt zu Glitzerjacke und Pailettenstirnband und bringt das Baskenland und Tribalpop nach Hamburg. Das mit Blumenkränzen, Federschmuck und obligatorisch wahllos aufgetragenem Glitzer geschmückte Publikum tanzt als gäbe es keinen Morgen.

Nach dieser augenzwinkernden Darbietung fällt es umso negativer ins Gewicht, dass Rapper Mac Miller jegliche Selbstironie vermissen lässt. Dem 22-Jährigen hätte man irgendwie eine etwas weniger bierernste Show zugetraut, stattdessen bedient er jedes Hip Hop-Genre-Klischee. Put your hands up in the air! Gähn.

Schon auf dem Melt! als einer der absoluten Highlight-Acts gehandelt, macht Woodkid alias Yoann Lemoine diesem Ruf nach Mac Miller als letzter Künstler auf der Mainstage am Samstag alle Ehre. Mit seiner berüchtigten Lichtshow, atemberaubenden Visuals, für die sich Lemoine, der auch als Grafikdesigner und Regisseur tätig ist, selbst verantwortlich zeigt und einer perfekt aufeinander abgestimmten Orchestrierung, präsentiert Woodkid fast sein gesamtes Debüt „The Golden Age“. Nie war Pathos schöner.

Sonntag: Russisch Koks und Girlpower

Der letzte Tag des diesjährigen Dockville ist fest in weiblicher Hand. Auf dem Vorschot gibt sich nachmittags das Projekt El Perro Del Mar die Ehre. Hat weder was mit Spanien, noch mit freilaufenden Hunden am Strand zu tun, vielmehr verbirgt sich hinter dem Namen die Sängerin Sarah Assbring aus Göteborg, deren melancholischer Indie-Pop wohlklingend über das angrenzende Kunstcamp schwebt – zumindest wenn man die Augen schließt, denn Assbring trägt ein grauenerregendes Ensemble aus rosanen, geflochten Zöpfen und Latzhose, das (unfreiwillig?) Assoziationen zu einer alternden Pippi Langstrumpf weckt.

Mit Austra geht es auf derselben Bühne mit Dark Wave-Synth Pop und der fragil (auf Platte!), bzw. stark an den Nerven zerrenden (live!) Stimme von Katie Stelmanis weiter. Auch rein oberflächlich lassen sich Parallelen zu El Perro Del Mar auftun: Stelmanis trägt ein furchteinflößend-geschmackloses Outfit aus weiten, clownesken Shorts, gestreifter Strumpfhose und Plateau-Sandaletten. Die Performance der Kanadierin wirkt leider auf großen Strecken derart geistesabwesend und teilnahmslos, dass die Reaktionen des sonst so ekstatischen Dockville-Publikums vergleichsweise verhalten bleiben. Katie Stelmanis singt das Dockville wortwörtlich in Trance. Da hilft auch kein Russisch Koks, eine Mischung aus Kaffeepulver und Vodka, das man an der Bar nebenan erwerben kann.

Die schottischen Chvrches machen ihre Sache dagegen (etwas) besser. Lauren Mayberry, Frontfrau der Elektropop-Band und ihre Bandkollegen spielen sich sympathisch durch ihr Debüt „The Bones Of What You Believe“, so recht kann man sich aber nicht vorstellen wie die schüchterne und leicht gehemmte Sängerin kürzlich die Shows als Support von Depeche Mode gemeistert hat.

Erst Poliça, die Dame mit dem rätselhaften Namen und zugleich die letzte weibliche Künstlerin, die sich heute auf dem Vorschot beweisen muss, weiß gänzlich zu überzeugen. Die Amerikanerin zeigt ihren vorangegangen Kolleginnen trotz gemeinhin geächteter Autotune-Stimme und zwei Drummern, die fragwürdigerweise das Gleiche spielen anstatt sich gegenseitig zu ergänzen, wie eine erhabene UND mitreißende Show aussieht. Leider ist der schon seit Freitag angekündigte Regenschauer kurz vor dem Gig des Quartetts schließlich doch noch auf das Dockville-Gelände niedergegangen und so suchen Sonntagabend viele Besucher Unterschlupf in ihrem Zelt oder packen selbiges kurzum ins Auto, um den Heimweg anzutreten. Die Massen lichten sich, Poliças TripHopPop lauschen weit weniger Menschen, als es das Quintett verdient hätte.

Als letzter Act stellen auf der Main Stage parallel zu Poliça die Isländer FM Belfast ihre enorme Kindergeburtstag-Tauglichkeit unter Beweis und beenden ein rundum gelungenes Wochenende.