Im Berliner Lido spielten die drei Schwestern von Haim gestern ein restlos ausverkauftes Konzert, das eigentlich schon im Mai hätte stattfinden sollen. Über drei Monate nach dem geplanten Termin hat die Hysterie rund um die Band nicht abgenommen. Im Gegenteil.
Im Vorfeld las man auf der Facebook-Eventseite des Haim Konzerts vermehrt verzweifelte Hilferufe à la: „Will pay extra!!!“ oder „Zahle dreifachen Preis!“. Was in letzterem Fall bei einem ursprünglichen Ticketpreis von knapp 20 Euro mal eben schlappe 60 Euro wären – für eine Band, die gerade mal vier Singles veröffentlich hat.
„Forever”, „Don’t Save Me”, „Falling” und „The Wire” reichten aus, um eine derartige Hysterie um die drei Schwestern aus Kalifornien auszulösen, das man meinen könnte, Haim bestritten nach 13 Alben und 10 EPs 2013 ihre Reunion-Tour in Berlin. Die Wirklichkeit sieht allerdings ganz anders aus: Danielle, Alana und Este Haim sind gerade mal süße 24, 21 und 27 Jahre alt und veröffentlichen ihr Debüt „Days Are Gone“ erst Ende September. Grund genug, dieser kollektiven Zuneigung ein wenig skeptisch gegenüber zu stehen.
Schon am 02. Mai sollten Haim eigentlich in Berlin die Bühne des Lido betreten und beweisen, ob der weltweite Hype seine Berechtigung hat. Schon damals war der Gig restlos ausverkauft, Die NME-lesende Meute scharrte ungeduldig mit den Füßen. Aufgrund der laufenden Aufnahmen für das Debüt musste der Gig allerdings verschoben werden, so drängeln sich schließlich erst drei Monate später die erwartungsvollen Gäste (samt denen, die gerne welche wären und deshalb Pappschilder mit der Aufschrift „Tickets?“ hochhalten) vor dem ehemaligen Kino in Kreuzberg. Alle sind sie gekommen, um später mal ihren Enkeln erzählen zu können: „Damals, bei Haims erstem Berlin-Konzert, da war ich dabei…“ Gut, in Wahrheit war es das zweite, denn es gab schon eins im Juni in der O2 World, aber über den Rihanna-Support-Slot schaut man aus Credibilty-Gründen vermutlich wohlwollend hinweg).
Das Lido platzt gegen 22 Uhr aus allen Nähten, als das Trio (live unterstützt von Drummer Dash Hutton) die erste Überraschung bereithält: zu den Klängen von Jay-Zs „99 Problems“ bouncen die Schwestern lachend und komplett in schwarz gekleidet auf die Bühne. Erster Pluspunkt: allzu ernst nehmen sie sich offenbar nicht. Nach dieser humorvollen Hip Hop-Einlage folgt „Better Off“, der erste Track ihrer „Forever“-EP.
Als erstes fällt auf: die Mädels teilen sich offenbar nicht nur ihre Gene, sondern auch den Friseur. Alle drei schütteln ekstatisch ihre brünette Hippie-Mähne, sodass man sich ein wenig an die Schwestern von First Aid Kit erinnert fühlt. Die Gemeinsamkeiten zum schwedischen Duo beschränken sich aber auf optische Komponenten, denn im Lido wird an diesem Abend statt lieblichem Folk-Gesang badass-R’n’B inspired Rock geliefert.
Tatsächlich ist die Show von Anfang an so energetisch und die jungen Frauen so offensichtlich talentiert, das selbst die abgeklärte Musikbusiness-Bande hinten an der Bar anfängt zu wippen. Alle drei beherrschen mehrere Instrumente perfekt, alle haben großartige Stimmen (gerade der Kontrast zwischen Danielles rauer, tiefer Stimme und dem höheren Gesang von Este und Alana funktioniert live perfekt) und alle wirken zum Glück nicht so, als hätten sie die Lust an Live-Gigs irgendwo zwischen dem Support von Vampire Weekend und dem zigtausendsten Festivalauftritt verloren.
Stattdessen wendet sich vor allem die am extrovertiertesten auftretende und gleichzeitig älteste der drei Schwestern, Este, vermehrt ans Publikum. So erzählt sie, dass sie den heutigen Tag genutzt haben, um Berlin zu entdecken –sprich größtenteils in einem Shopping Center abhingen, Currywurst aßen und eine Stippvisite ins rosarote Barbie Dreamhouse am Alexanderplatz unternahmen. Alana rät lachend: „Geht da alle hin! Und sprayt nette Sachen an die Wand wie: ‚Ken is my bitch!‘“.
Den Überhit „Falling“ singt im Anschluss Este, da ihrer Schwester die hohen Töne aufgrund einer Erkältung Probleme bereiten. Este macht ihre Sache erstaunlich gut, beteuert „I would do anything for my sister“ und kriegt angesichts dieser niedlichen Treuebekundung prompt einen Damenslip auf die Bühne geworfen. Die 26-Jährige freut sich: „Wie toll, der ist ja genau meine Größe!“ Danach nimmt sie sich wieder Bass und Trommeln an und macht dabei ausgiebig Gesichtsgymnastik. So konzentriert und aufopfernd spielt die junge Dame, dass gegen Ende des Konzerts einer ihrer Zähne anfängt zu wackeln und sich Este beim Publikum nach einem Zahnarzt in Berlin erkundigt.
Nach einem Kletterausflug Alanas auf das Bühnengerüst, ihrer Aufforderung ans Publikum: „Lasst uns nach dem Konzert alle betrinken und rummachen“, sowie Haims gefeierten Singles „Don’t Save Me” und „Forever”, vergessen die Kalifornierinnen glatt sich vor der Zugabe von der Bühne zu verabschieden. So spielen sie den letzten Vorgeschmack auf ihr kommendes Album in Form von „Let Me Go“ einfach ohne vorherige Unterbrechung. Zum Abschluss dreschen die Multiinstrumentalistinnen ein letztes Mal derart kraftvoll und beeindruckend auf ihre Trommeln ein, dass selbst Schlagzeuger Dash Probleme hat mitzuhalten. Nach nicht mal einer Stunde ist dann auch schon Schluss. Eigentlich wollte man dieses Konzert ja ob der ganzen Hysterie ein bisschen überbewertet finden, gelingt aber nicht.