Bis heute in den frühen Morgenstunden fand auf Ferropolis das ausverkaufte Melt! Festival statt. Mittlerweile ist der letzte Besucher abgereist, der Campingplatz ist leer und die Musik aus. Wie es davor während der dreitägigen Dauerparty zuging, lest ihr hier.
Was bringt Scharen von Skandinaviern, Briten und Holländern jährlich dazu, trotz der schier unendlichen Auswahl namhafter europäischer Festivals gerade zum Melt! Zu pilgern? Diese Frage können sich eigentlich nur jene Nichtsahnenden stellen, die dieses Festival noch nie besucht haben. Denn das Melt! bleibt in vielen Punkten unübertroffen. Jedes Jahr besuchen deshalb Angehörige unzähliger Nationalitäten das Melt! – sie schätzen nicht nur die musikalische Vielfalt und das Publikum, sondern vor allem die außergewöhnliche Location.
Los geht das Festival am Freitag mit dem heiß erwarteten Gig des Briten Alt-J. Zwischen Indie-Pop-Hymnen bekommt das Publikum unter anderem die kleine Anekdote zu hören, wie die Band morgens am Flughafen in Oslo auf die Kollegen von Two Door Cinema Club stieß und fragte, welches das beste Festival Europas sei. Die Antwort war natürlich: Melt!. Alt-J spielen sich durch ihr Debüt „An Awesome Wave“, zwischendurch covern sie den „Drive“-Soundtrack-Hit „A Real Human Being“ von College. Passend zum Songtitel gibt sich Sänger Joe Newman im Normalo-Look herrlich unprätentiös. Die gesamte Performance ist gleichermaßen unspektakulär wie überzeugend.
Es folgt ein kurzer Abstecher ins Intro-Zelt, wo gerade King Krule mit Dialekt à la Mike Skinner und spitzzüngigen Texten über seine Anhänger regiert – gekleidet in ein Hemd seiner eigenen Kollektion, die der Londoner im Juni veröffentlichte. Danach führt kein Weg an der Mainstage vorbei, denn für The Knife gilt es jetzt zu beweisen, dass sie der Headliner-Pool-Position würdig sind. Eingestimmt wird das Publikum von einem aufdringlichen Typen in Glitzer-Latex, der sich wiederholt erkundigt, ob die Zuschauer „still alive“ seien. Ja, sind sie, danke der Nachfrage, haben aber trotzdem keine Lust auf seine lächerlich-bizarren Aerobic-Aufforderungen.
Irgendwann ist zum Glück auch diese Einlage überstanden und surreal anmutende Instrumente werden mit viel Pathos von Kapuzen tragenden Gestalten auf die Bühne gebracht. Es folgt eine perfekt einstudierte, eindrucksvolle Choreographie von rund einem Dutzend skandinavischer Performer in Pailletten-Kostümen. Mit einem Live-Konzert hat das hier leider trotzdem eher weniger zu tun, es erinnert vielmehr an eine imposante Tanz-Show. So sind auch die Geschwister Karin und Olof kaum von der tanzenden Masse differenzierbar. Zusätzliche Verwirrung wird dadurch erzeugt, dass der Zuschauer nicht weiß, ob gerade live gesungen wird oder die Vocals vom Band kommen. Angesichts der Rarität von The Knife-Konzerten hätte man mehr erwarten können.
Samstag: Überraschungs-Highlight
Nach einer brütend heißen Nacht, null Stunden Schlaf und mehreren Dosen Energy-Drink, gilt es am Samstag zu überprüfen, ob der Hype um Disclosure gerechtfertigt ist. Das britische Duo, bestehend aus den 19- und 22-jährigen Brüdern Guy und Howard, wurde vorher als einer der Festival-Geheimtipps gehandelt. Genau wie im letzten Jahr spielen sie auf der Gemini Stage und sorgen mit Deep House und 3D-Diamanten-Visuals für ungewöhnlich viel Bewegung in den vorderen Publikumsreihen. Und das nicht erst bei ihrem Überhit „White Noise“. Während die jungen Wunderkinder die Crowd vor der Gemini Stage zum Ausrasten bringen, ist vor der Mainstage Kontrastprogramm angesagt: die Deutsch-indie-Rocker von Kettcar singen ihr von Freitagnacht nicht mehr genügend restalkoholisiertes Publikum in den Schlaf.
Zur Mainstage bewegt man sich danach am besten überpünktlich, um sich bereits einen guten Blick auf die später auftretenden Babyshambles inklusive Pete Doherty zu sichern. Vorher jedoch entert Woodkid die Bühne. Ist die Musik des Franzosen auf Platte teils etwas zu sperrig und erhaben, hat er live eine derartige Präsenz und Energie, dass noch am Sonntag alle nur von dem EINEN Konzert reden werden. Begleitet von diversen Blasinstrumenten, Synthesizern und Schlagzeugen sowie einer perfekt abgestimmten Lichtshow und jeder Menge ganz und gar nicht peinlicher, dramatischer Gestik, wird Woodkid nicht müde zu betonen, wie fantastisch er Location und Publikum findet. Ausnahmsweise hört sich das aber nicht wie eine leere Floskel an, sondern wie eine ernst gemeinte Liebesbekundung. Kaum ein anderer Act wird dieses Jahr so frenetisch gefeiert und bejubelt.
Nach dieser positiven Überraschung sieht Pete Doherty im Anschluss ziemlich blass aus. Erst Mitte Mai wurde mit den Babyshambles das Melt! Line-Up komplettiert – seitdem fieberten viele Anhänger dem einzigen Deutschlandauftritt der Band entgegen. In den ersten Reihen schubsen und drängeln sich hysterische Fans, die Umbaupause wird zur Bewährungsprobe. Während Pete bei seiner Solo-Tour vor zwei Jahren mit ungekannter Professionalität begeisterte, ist von selbiger bei seinem Melt!-Auftritt leider nicht mehr viel zu spüren. Die Innenseite seines Shirts ist nach außen gekehrt, ebenso seine Hosentaschen. Der Hosenstall steht offen, der Reißverschluss seiner Schuhe auch. Das Publikum begrüßt er verwirrt mit „Hello Düsseldorf“. Zigarre rauchend lallt sich ein offensichtlich angetrunkener Pete teilweise nicht besonders textsicher durch das einstündige Set. Sympathisch ist das Konzert allemal, die Songs der Babyshambles immer noch clever und mitreißend. Angesichts des furchtbaren Bühnen-Backdrops und der Tatsache, dass Pete wiederholt mit Espadrilles beworfen wird, erzeugt der Auftritt jedoch in erster Linie eines: Mitleid.
Den Rest der Nacht versüßen auf der Melt! Selektor und vor der Big Wheel Stage Techno- und House-Größen wie James Holden und Ben Ufo. Die Bagger speien derweil immer wieder Feuer und sorgen für unvergessliche Melt!-Momente.
Sonntag: Weltmusik, Backstreet Boys-Cover und noch mehr Sonne
Der letzte Festivaltag ist angebrochen und über den hitzebedingten Schlafenzug kann mittlerweile auch kein Red Bull mehr hinweghelfen. Bei noch höheren Temperaturen als am Vortag liefert Ghostpoet zwar ein solides und stimmgewaltiges Set an, ist jedoch nicht wirklich in der Lage, die müden Lebensgeister zu regenerieren. Lange hält man es ohnehin nicht vor der Hauptbühne aus, die Sonne scheint unerbittlich auf die entsprechend bewegungsfaulen Besucher. Schatten bietet jedoch glücklicherweise das Dach der Gemini Stage, auf der die Owiny Sigoma Band beweist, dass Weltmusik nicht nur auf dem Fusion Festival, sondern auch auf dem Melt! funktionieren kann.
Und wieder zurück zur Mainstage: im Fall von Charli XCX kann leider auch ein wenig originelles Backstreet Boys-Cover die Zuschauer nicht mehr am Weiterziehen hindern. Ihren mit dünner Stimme und im lasziven Lolita-Schulmädchen-Look vorgetragenen Elektro-Pop wollen nur wenige Besucher sehen. Nach ausbleibendem Applaus gibt sie immer wieder nur ein arrogant-irritiertes „okaaay“ von sich. Der Auftritt der 21-Jährigen ist (zu Recht) einer der am schlechtesten besuchten auf der Mainstage.
Zeit, ein wenig auszuruhen und den Himmel über Ferropolis eingehender zu betrachten: im Sommer 2013 befinden sich dort fliegende Helium-Seife-Herzen, die im Minutentakt in die Luft steigen und vor dem strahlend blauen Himmel wunderschön aussehen. Visuell noch mehr geboten bekommt der Festivalbesucher dann bei Flying Lotus, der wie gewohnt mit zwei Leinwänden angereist ist, zwischen ihnen sitzend auflegt und nur für Rap-Einlagen seinen angestammten Platz verlässt. Danach leuchten bei Thom Yorkes Supergroup Atoms For Peace endlich die Neon-Röhren im Bühnenhintergrund auf ihren Einsatz warten. Wesentlich zwingender und tanzbarer als auf Platte kommt ihr Auftritt daher und ist damit ein würdiger Festivalabschluss.
Der obligatorische Sonnenbrand, das Konfetti im Haar und die schmerzenden Füße werden wohl viele Festivalbesucher noch einige Zeit wehmütig an das Melt! der Spitzentemperaturen zurückdenken lassen.