Das Kinojahr 2020 war ein schmerzhaftes Jahr für die Kinos und Filme. Verschiebungen, Veröffentlichungen über Streaming-Plattformen oder nur sehr kurze Ausstrahlungen im Kino waren an der Tagesordnung. Dennoch gab es in diesem Jahr ziemlich großartige Filme, die es über irgendeinen Weg zu uns geschafft haben, weshalb es kein Problem war eine Top-10 Liste zu füllen. Bleibt nur zu hoffen, dass wir in Zukunft großartige Filme wieder auf großen Leinwänden zu sehen bekommen, denn das hätten diese Filme alle verdient:
10. Bad Education (Cory Finley)
Nachdem Cory Finley’s sehr gutes Regiedebüt Thoroughbreds hier zu Lande leider völlig zu Unrecht komplett unterging, war ich sehr gespannt auf seinen nächsten Film. Die breite Masse hat er zwar erneut nicht erreicht, aber sein neuer Film ist mindestens genauso gut. Bei Bad Education geht es um eine wahre Geschichte, in der der Schuldirektor einer Privatschule, gespielt von Hugh Jackman, jahrelang die Spendengelder der Eltern in die eigene Tasche gesteckt hat, um ein luxuriöses Leben zu führen. Der Film widmet sich dabei besonders der Aufdeckung des Verbrechens und dem Einsturz von Hugh Jackmans Welt. Dabei schafft der Film einen grandiosen Spagat zwischen Verachtung und Mitgefühl für den Schuldirektor, geht aber nie soweit, dass er ihn freisprechen möchte. Es ist vielmehr eine nüchterne Betrachtung, bei der klar wird, dass das amerikanische Bildungssystem der wahre große Verlierer ist. Hugh Jackman spielt so gut wie lange nicht mehr, oder vielleicht wie noch nie, und die Tanzszene zu Mobys In This World ist schon jetzt ein Klassiker.
9. Queen & Slim (Melina Matsoukas)
Nach ihrem ersten Date werden Queen und Slim auf dem Heimweg von einem Polizisten angehalten. Die Situation eskaliert, der Polizist stirbt im Affekt. Queen und Slim entscheiden sich durch die Südstaaten Amerikas zu fliehen. Die Videoaufzeichnung des Vorfalls geht viral und macht aus beiden Symbolfiguren; für die einen sind sie Verbrecher, für die anderen Helden einer unterdrückten Gesellschaft. Melina Matsoukas, spürbar von ihrer Erfahrung mit Musikvideos inspirierte, Inszenierung über Polizeigewalt und Rassismus überzeugt. Die Chemie zwischen Daniel Kaluuya und Jodie Turner-Smith ist unglaublich gut. Hoch aktuell und mit einem unglaublich starken Ende vergisst man diesen Film nicht so schnell.
8. Possessor (Brandon Cronenberg)
Da das Horrorgenre in den letzten Jahren unter anderem. durch Ari Aster, Robert Eggers und Jennifer Kent so gut wie lange nicht mehr ist und die Bedeutungslosigkeit des Genres aus den frühen 2010er-Jahren überwunden scheint, ist es das perfekte Timing, dass nun auch Brandon Cronenberg, der Sohn von Horrorlegende David Cronenberg, in das Genre miteinsteigt. Mit seinem zweiten Film Possessor schafft er das auch sofort auf beeindruckende Weise. In dem surrealen Grundkonzept des Films ist es einer Agentur möglich andere Menschen zu übernehmen, um mit ihren Körpern Auftragsmorde durchzuführen. Der Protagonistin, die diese Menschen zum Morden übernimmt, fällt es mit der Zeit immer schwerer zu erkennen was real ist und was nicht, was sie schließlich in eine Identitätskrise stürzt. Visuell unglaublich stark, schauspielerisch brillant und mit der wahrscheinlich brutalsten Szene des Kinojahres ist Possessor ein Must-See für alle Genrefans. Papa Cronenberg ist sicher stolz!
(Da der Film wegen der Pandemie etwas unterging in Deutschland gibt es hoffentlich nochmal einen breiten Kinostart 2021)
7. Les Miserablés (Ladj Ly)
Inspiriert durch die Aufstände in Paris 2005 erzählt der Film von Ladj Ly von einer Truppe Polizisten, die sich selbst für Könige in dem Pariser Vorort Montreuil halten. Durch ihr Verhalten eskaliert eine Verhaftung und artet in Gewalt aus, wodurch ein Junge schwer verletzt wird. Das Ganze wird von einer Drone gefilmt. Eine Hetzjagd auf die Polizisten durch den Pariser Vorort beginnt. Man merkt dem Film an, dass Ladj Ly das Thema sehr wichtig ist, denn er war bei den Aufständen 2005 selbst mittendrin. Und so schafft er es Les Miserablés unglaublich intensiv und dicht darzustellen, als wäre man selbst dabei. Besonders in der zweiten Hälfte bekommt man kaum eine Pause zum Durchatmen. Das Ganze spitzt sich bis zum Schluss zu, um dann ein sehr düsteres Ende zu finden, welches die Zuschauer*Innen alleine zurücklässt und klar macht, dass es noch immer keine Lösungen für die Polizeigewalt gibt.
6. Luce (Julius Onah)
Luce gilt als der absolute Musterschüler seiner High School. Dabei wird er als perfektes Beispiel einer erfolgreichen Erziehung und Integration dargestellt, da er von seinen Eltern im jungen Alter aus einem Kriegsgebiet in Afrika adoptiert wurde. Die Zukunft scheint ihm zu Füßen zu liegen, doch eines Tages werden größere Mengen Feuerwerkskörper in seinem Schulspinnt gefunden. Kurz zuvor gibt Luce für eine Hausaufgabe einen Text ab, indem er augmentiert, dass Gewalt manchmal ein notwendiges Übel ist, um seine Ziele durchzusetzen. Seine Lehrerin sieht ab dort eine Gefahr in ihm und meldet es der Schule. Es entsteht ein intelligenter Thriller, bei dem man als Zuschauer*In nie weiß wen man vertrauen kann und wer die Wahrheit sagt. Dabei geht es in dem starbesetzten Film um Vorurteile, Erziehung und Rassismus.
5. Waves (Trey Edward Shults)
Waves ist sicherlich einer der innovativsten Filme des Jahres. Mit einer sehr eigenen Erzählform, seinem außergewöhnlichen Einsatz des starken Soundtracks und einer beeindruckenden Bildsprache besticht der Film darüber hinaus mit überragenden schauspielerischen Leistungen. Über die Story sollte man sich am besten vorab nicht informieren. Die Zuschauer*Innen werden immer weiter mit der Familie hinuntergezogen in der Trauer, der Wut und der Angst, um zwischendurch aber auch immer wieder Momente der Hoffnung zu erfahren. Die Szene, in der der Vater seiner Tochter gesteht, dass er nicht mehr weiterweiß, ist sicherlich eine der einfühlsamsten Szenen des Jahres.
4. Sound Of Metal (Darius Marder)
Riz Ahmed gibt hier vielleicht die Performance des Jahres. Er spielt den Schlagzeugspieler Ruben, der seine Heroinsucht seit einigen Jahren überwunden hat und nun im Laufe des Films feststellen muss, dass er taub wird. Nicht bereit das zu akzeptieren beobachten wir Ruben, wie er mit seinem Schicksal zu kämpfen hat und verzweifelt versucht eine Lösung für die Taubheit zu finden. Denn er sieht sich selbst als jemanden, der seine Probleme selbstständig lösen kann, wie zuvor auch schon seine Drogensucht. Schließlich trifft er auf eine Gruppe von tauben Drogensüchtigen, die zurückgezogen in der Natur leben und lernt dort, dass die Taubheit vielleicht gar nicht das Problem ist. Das Sounddesign des Films ist dabei so ausgelegt, dass wir mit Ruben fühlen. In Szenen aus seiner Perspektive hören wir nur dumpfe Geräusche, haben ein Tinnitus im Ohr oder hören rein gar nichts.
Tolle Erkenntnisse über das Leben und ein passendes, realistisches Ende machen Sound Of Metal zu einem außergewöhnlichen und intensiven Filmerlebnis.
3. Sorry, we missed you (Ken Loach)
Sorry, we missed you wurde inszeniert von der Sozialismus-Regielegende Ken Loach, der hiermit erneut bewiesen hat, dass er eine der wichtigsten Stimmen des Kinos ist. Er widmet sich in diesem Film den Ausbeutungen, denen Paketboten ausgesetzt sind. Erzählt aus der Perspektive einer Familie aus Newcastle, die trotz Arbeiten am Limit gerade genug Geld hat die Miete zu bezahlen und für Essen auf dem Tisch zu sorgen. Der Vater Ricky nimmt, in der Hoffnung auf mehr Geld, einen Job als Paketbote an, muss aber schnell feststellen, dass er neben einer 80 Stunden Woche auch noch viel mehr Risiko trägt als vorher, da er sich Selbstständig melden muss für die Arbeit. Parallel dazu schuftet die Mutter Abbie als Altenpflegerin und stößt dort auf die Probleme und Grenzen ihrer Branche. Eine Abrechnung mit dem schnelllebigen Kapitalismus und den Folgen des wachsenden Onlinehandels, dargestellt von größtenteils Laiendarsteller*Innen, die selbst in ähnlichen Verhältnissen arbeiten und leben. Sehr hart und erschütternd, aber genau deshalb so wichtig und eine absoulte Empfehlung.
2. Dogs don’t wear pants (J-P Valkeapää)
Hier finden ein Gehirnchirurg und eine Domina zueinander, und das ist gerade so gut und erfrischend, weil der Film sich nicht als Liebesfilm identifiziert. Juha verliert zu Beginn des Films seine Frau, die sich ertränkt. Er bleibt mit seiner Tochter zurück und bekommt nie eine Antwort, warum seine Frau sich umgebracht hat. Die Haupthandlung spielt einige Jahre später, Juha war bis jetzt nicht mehr im Stande irgendetwas zu fühlen und lebt nur noch für die Arbeit, selbst seine Tochter vernachlässigt er. Eines Tages will es der Zufall, dass er in die Hände der Domina Mona stolpert. Mona, die annimmt, dass Juha ein neuer Kunde ist, würgt ihn bis zur Ohnmacht. Hierbei merkt Juha nun, dass er auf diese Weise endlich wieder etwas fühlen kann in seinem Leben. Aber auch Mona merkt mit der Zeit, dass er nicht ein einfacher Kunde für sie ist, wie all die anderen. Auch sie fühlt etwas, wenn sie ihm Schmerzen zufügt. Und eben daraus entsteht die beste Liebesgeschichte des Jahres, die sehr trocken und düster inszeniert wird, mit der vielleicht realistischsten Darstellung der BDSM-Szene, die man jemals in einem Film gesehen hat.
Da es sich hierbei aber um keinen klassischen Liebesfilm handelt, wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Film zwei sehr explizite Gewaltspitzen enthält. Der schönste Liebesfilm seit langem.
1. Never Rarely Sometimes Always (Eliza Hittman)
Eliza Hittman erzählt in ihrem ruhigen Film auszugsweise einige Tagen im Leben der Teenagerin Autumn. Diese ist ungewollt schwanger und möchte abtreiben, was ihr in ihrem eigenen Bundesstaat jedoch verwehrt bleibt, da sie dort nur mit der Einwilligung ihrer Eltern die Abtreibung durchführen darf. Deshalb trifft sie die Entscheidung nach New York City zu fahren, da sie dort gesetzlich alleine abtreiben darf. Begleitet wird sie dabei von ihrer Cousine Skylar, die einzige Person, derer sie sich anvertrauen kann.
Mit wenig Dialogen und einer langsamen Erzählstruktur schafft es Hittman hier eine unglaublich intensive Atmosphäre zu kreieren. Manhatten wirkt schon fast wie eine Horrorkulisse, wenn die beiden Teenagerinnen total überfordert verloren durch die Stadt irren. Dieses bedrückende Gefühl aus der bedrohlichen Umgebung, der Wut, die man empfindet, da die beiden Mädchen völlig alleingelassen werden und der unglaublichen Performance der beiden Schauspielerinnen Sidney Flanigan und Talia Ryder machen diesen Film zum Besten des Jahres.
Die titelgebende Szene, in der Autumn auf sehr persönliche Fragen der Ärztin mit „niemals, selten, manchmal oder immer“ antworten soll, ist das herzergreifendste, was das Kinojahr zu bieten hatte.