Arcade Fire spielten gestern im Berliner Astra ein ausverkauftes Geheimkonzert unter dem Pseudonym The Reflektors. Wir waren vor Ort und berichten, wie’s war!
Das Phänomen Arcade Fire dürfte für Außenstehende schwer nachzuvollziehen sein: eine Band aus Montreal macht sakral-komplexen Indie-Rock mit schwer verdaulichen Texten und wird von Kritikern genau dafür geschätzt. Statt aber auf Festivals den undankbaren Nachmittags-Slot zu bespielen und die kleine, aber treue Fanbase zu unterhalten, lief bei den Kanadiern alles ein wenig anders. Spätestens mit dem Grammy Award für „The Suburbs“ waren Arcade Fire 2011 schließlich im Mainstream angekommen – ohne aber musikalisch oder textlich irgendwelche Kompromisse eingegangen zu sein. So verwundert es nicht, dass der gestrige Secret Gig unter dem Namen The Reflektors im (vergleichsweise intimen) Rahmen in Berlin förmlich eine Welle der Hysterie auslöste: auf ein kryptisches, schnell überklebtes Plakat auf der Warschauer Straße folgte eine offizielle Ankündigung im Online-Programm des Astra und schließlich der Hinweis, am Samstag, den 9. November könnten ab 10 Uhr Tickets erworben werden. Zahllose Menschen saßen also an diesem Morgen vor ihren PCs, Laptops und mobilen Endgeräten, drückten unaufhörlich auf die F5-Taste und waren bereit, über 40 Euro für den Auftritt der angeblichen Cover-Band The Reflektors zu zahlen – obwohl der Preis mit der gängigen Definition eines „Secret Gigs“ eigentlich alles andere als vereinbar war. Eine Eintrittskarte so kostbar, begehrt und selten wie das goldene Ticket für Charlies Schokoladenfabrik. Warum dann doch kaum kritische Stimmen und Rip-off-Rufe laut wurden, sondern im Gegenteil, die Arcade Fire-Anhänger, bei denen auf tickets.de bereits um 10:01 Uhr unerbittlich die Lettern „Ausverkauft“ blinkten, sogar bei eBay bereit waren, absurde Gebote von bis zu 400 Euro abzugeben – das ist und bleibt wohl Arcade Fires Geheimnis.
Ebensolche Rätsel dürfte wohl die Tatsache aufgeben, dass die sonst so verkleidungsscheuen, den rheinischen Karneval verachtenden Berliner für die Band aus Montreal ihre Prinzipien über Bord werfen und in stiller Übereinkunft fast ausnahmslos kostümiert oder in Abendgarderobe erschienen sind – so wie die Band es auf dem bereits erwähnten Ankündigungsposter vor zwei Wochen verlangt hatte.
Bevor Unmut unter den zahllosenden Wartenden vor dem Astra aufkommen kann, fährt eine prunkvolle weiße Limousine vor und hält zur Begeisterung der kostümierten Wartenden genau vor der Schlange. Es entsteigen Arcade Fire – oder zumindest lässt die Band ihre Fans in dem Glauben, denn mit aller Sicherheit kann man es nicht sagen, tragen die vermeintlichen Bandmitglieder doch die riesige Pappmaché-Masken, die man schon aus dem Video zu „Reflektor“ kennt. Die maskierten Gestalten schütteln Hände, eine mexikanische Mariachi-Band sorgt dafür, dass keine Langweile aufkommt, während die ersten 100 von ca. 1.300 Fans die Eingangshalle des Astra betreten dürfen. Ihnen bietet sich zunächst ein Blick auf viel silbernes Lametta, Discokugeln, und einen Tisch voll liebevoll dekorierter, kostenloser Masken. Das Astra, sonst eher bekannt für seinen DDR-Abi-Feten-Reiz, versprüht heute lieber exzentrisch-kitschigen High School-Prom-Charme. Lange kann man sich in der Eingangshalle jedoch nicht aufhalten, die hundert glücklichen Fans werden gebeten, sich zur „Tanzstunde“ vor der Bühne einzufinden. Dort macht tatsächlich ein als Skelett verkleideter Mann eine exaltierte Choreographie zu „We Exist“ vor.
Die Meute versucht seine Bewegungen so gut es geht zu imitieren, zwischendurch posieren die wieder aufgetauchten Pappmaché-Komparsen geduldig für Fotos.
Schon bevor Arcade Fire die Bühne betreten, hat man folglich das Gefühl einer sehr unterhaltsam-skurrilen Party beizuwohnen. Die natürlich erst richtig in Fahrt kommt, als Win Butler und Co. (natürlich ebenfalls ungewöhnlich funkelnd und farbenfroh gekleidet) samt haitischer Congatrommler die Bühne zu einer a cappella-Version von „My Body Is A Cage“ betreten, die wiederum unter Jubelschreien in den Titelsong des neuesten Albums „Reflektor“ mündet – zur absoluten Perfektion fehlt an dieser Stelle wohl nur noch die Gesangseinlage von David Bowie.
„Neighborhood #3 (Power Out)” aus dem Debüt „Funeral” sowie mehrere Songs des neuen, von James Murphy produzierten Albums „Reflektor“ sollen folgen, bevor die Menge zu den Klängen von „We Exist“ endlich zeigen kann, was sie zuvor gelernt hat. Zwar gibt Win Butler noch zu bedenken, es gäbe nicht viele Lebenssituationen, in denen man die Bewegungen eines Skeletts mime, aber an diesem Abend macht jeder gerne eine Ausnahme. Abgesehen davon gibt sich Wind Butler gewohnt wortkarg, verpasst sich stattdessen mit dem Gebräu eines Fans eine zünftige Bierdusche und reicht im Gegenzug seinen Flachmann unbekannten Inhalts ans Publikum zurück. Ansonsten betont Butler lediglich, das letzte Berlinkonzert sei das gelungenste in Deutschland gewesen – ob der heutige Abend den Gig von damals auf der internen Bestenliste der Band ersetzen wird?
Zu „Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)” aus dem gefeierten dritten Grammy-Album „The Suburbs” tanzt und singt Régine Chassagne gewohnt eigenwillig-unbeholfen und wirkt in ihrem blau-glitzernden Eisprinzessinnen-Kleid und der Leoparden-Strumpfhose trotzdem hinreißend. Auf „Normal Person” folgt „Uncontrollable Urge”, ein Cover der amerikanischen New-Wave Band Devo, und das Konzerthighlight „Here Comes The Night Time”, zu dem ein silbernes Konfetti-Feuerwerk auf die ersten Reihen regnet und sich Win Butler sogar zum Stagediving hinreißen lässt. Zwei Songs vom Debüt bilden die Zugabe: „Haiti”, bei dessen Ankündigung Win Butler erklärt, jeweils ein Euro des Ticketpreises würden an Charity-Organisationen gespendet, und als allerletzter Song des Abends „Wake Up”, bevor Win Butler seine Fans bis Mitternacht noch mit einem DJ-Set begeistert.
Arcade Fire sahen sich an diesem Abend mit gigantischen Erwartungen konfrontiert, die seit der ersten Sichtung des Ankündigungsposter gemächlich reifen durften. Mit den tanzbarsten Songs ihrer Karriere im Gepäck, einer Studio 54-esken Kulisse und einem großartigen Rahmenprogramm hat die Band diese Erwartungen erfüllt.