Freude und Leid können so nah beieinander liegen. Während eine Woche vor dem größten Rockspektakel Deutschlands schon fleißig Zelte gepackt, Sixpacks gekühlt und Mitfahrgelegenheiten organisiert werden, erklärt Veranstalter Marek Lieberberg in einer Pressemitteilung: 2015 wird es kein Rock am Ring auf dem Nürburgring mehr geben. Mit den neuen Betreibern des Geländes kam es zu keiner Einigung, 29 Jahre Wahnsinn auf der Rennstrecke sind bald Geschichte. Bevor das Festival im kommenden Jahr sein Jubiläum in einer anderen Location feiert, wagten wir uns ein letztes Mal zwischen Dixies und Ganzkörper-Morphsuits und verraten euch, was ihr am Freitag auf dem traditionsreichen Open-Air so alles verpasst habt.
Freitag früh – die arbeitende Bevölkerung reist allmählich an, denjenigen, die schon seit Dienstag vor Ort sind, sieht man Schlafentzug und Restalkohol deutlich an. Bei traumhaftem Wetter tummeln sich ca. 80.000 Menschen vor traumhafter Eiffel-Landschaft auf der betonierten Rennstrecke und den umliegenden Campingplätzen, immerhin 10.000 Besucher mehr als der konkurrierende Festivalgigant in Scheeßel jährlich vorweisen kann. Statt durchgestyltem Coachella-Catwalk überwiegt bei den Rock am Ring-Outfits Pragmatismus. Der ein oder andere Festivaljünger hat sich allerdings einen flauschigen Fell-Einteiler übergeschmissen, in dem es locker an die 50° C werden dürften.
„Guten Morgen, Frühaufsteher!“, begrüßt die Moderatorin vor dem Auftritt von John Newman gegen 15:30 Uhr augenzwinkernd die überschaubare Menge vor der Centerstage, bevor der Soul-Sänger mit der blonden Tolle die Bühne in etwas unvorteilhaftem Dandy-Anzug betritt. Im Line-Up bildet der 23-Jährige eine der wenigen Genre-Überraschungen, mit Rock hat seine Musik schließlich wenig am Hut, eher mit chartstauglichem Pop-Mainstream. „We don’t get that in England“, bemerkt Newman strahlend mit Blick auf den wolkenlosen Himmel. Begleitet von Background-Sängerinnen beweist er, dass er die ganz großen Entertainment-Gesten beherrscht und begeistert dank extrovertierten Swing-Tanzeinlagen. Vergisst aber auch nicht, bescheiden seinen Freunden von Rudimental zu danken, die am Vortag ebenfalls die Mainstage bespielten und John Newman als Kollabo-Act ihrer Songs „Feel The Love“ und „Not Giving In“ zum Durchbruch verhalfen.
Nach diesem gelungenen Auftakt ertönt aus der Ferne der Fratellis-Überhit „Flathead“ – bis man den Weg zwischen Tattoo-Ständen und Pommesbuden zur Alternastage zurückgelegt hat, haben jedoch schon Portugal. The Man aus Alaska das Schotten-Trio abgelöst. Im Fall der sonst so genialen Amerikaner lässt die Songauswahl heute arg zu wünschen übrig. Von ihren acht Platten wählen Portugal. The Man nur ruhigere Tracks und variieren diese teils auch noch bis zur psychedelischen Unkenntlichkeit. Als die Band gegen Ende ihres kurzen Auftritts dann Pink Floys „Another Brick In The Wall“ covert, fragt man sich unweigerlich, ob angesichts ihres gerade mal 45-minütigen Sets wenigstens ein paar ihrer eigenen, tanzbaren Singles nicht wirkungsvoller gewesen wären.
Wieder zurück zur Centerstage, immerhin stehen dort gleich Kasabian auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Das Quartett aus Leicester veröffentlicht heute sein neues Album „48:13“, Songs aus selbigem sowie unzählige Klassiker gilt es jetzt zu präsentieren. Der Bühnen-Backdrop sieht mit seinem pinken „48:13“-Schriftzug aus wie eine überdimensionale Telekom-Reklame, Tom Meighan entert mit großen Rocker-Gebärden und gigantischer Schmeißfliegen-Sonnenbrille die Bühne. Während die Band in ihrer Heimat dank beinahe unverschämter Hit-Dichte ganz oben angekommen ist und dieses Jahr das Glastonbury headlined, hat man bei Rock am Ring heute vor der Bühne noch reichlich Platz zum Tanzen. Oder auch für ausgiebige Circle Pits, zu denen Meighan seine Fans wiederholt erfolgreich animiert. Weitere Sympathiepunkte sammelt der Frontmann dank dem anerkennenden Zuspruch für einen Besucher, der trotz seines Grinch-grünen Ganzkörperkostüms noch keinen Hitzeschlag erlitten hat. Zudem teilt der Leadsänger die Ressentiments des Publikums gegenüber der Tribüne, die für VIPs und Presse vorbehalten ist – und verleitet mit dieser Haltung zu euphorischen „Scheiß Tribüne“-Gesängen, die an diesem Wochenende die ewigen „Helga“-Rufe ablösen werden.
Kasabians Auftritt geht nahtlos über in das Konzert des Londoner Quartetts Crystal Fighters, deren Sänger in etwas gewöhnungsbedürftigem „König der Fischer“-Look mit Lumpen-Latzhose, Rauschebart und Baskenmütze für Erheiterung sorgt. Das Publikum tanzt ausgelassen zur Mischung aus Folk und Elektro, riesige Promo-Ballons, die in die Menge geworfen werden, tun ihr Übriges.
Langsam wird es voll auf dem Gelände, schließlich ist die sengende Hitze überstanden. Gefühlt ein Drittel der Anwesenden betritt der Gelände erst bei Abenddämmerung, versteht Rock am Ring vermutlich als einwöchigen Campingurlaub und erweckt den Eindruck, als seien die Konzerte lediglich kurzweilige Unterhaltung zwischen der ein oder anderen Grill-Session. Diesen (meist auch maximal alkoholisierten) Besuchern hat das Festival dann wohl auch seinen Ruf als „Ballermann“ unter den Open-Airs zu verdanken. Der Rest der Gäste ist auch betrunken, aber immerhin musikbegeistert. So muss es sein.
Schnell zurück zur Centerstage und mal auschecken, wie Mando Diao ihren aktuellen Longplayer „Aelita“ auf die Bühne bringen. Schon von weitem erkennt man das Weltraum-Bühnensetting, Sänger Gustaf Norén scheint dem Crystal-Fighters-Sänger in Sachen skurriles Auftreten noch Konkurrenz machen zu wollen und tritt mit platinblondem Pottschnitt, nacktem Oberkörper und Samurai-Hose auf den Plan. Kollege Björn hingegen kombiniert ein Stirnband, das selbst die Indie Cindies dieser Welt 2014 nicht mehr zu reanimieren gewagt hätten, mit diversen geschmacklosen Goldketten. Abgesehen von diesen beiden Herren, ist nur noch Bassist CJ von der einstigen Besetzung übrig geblieben. Den kann man angesichts der befremdlichen Darbietung der beiden Frontmänner nur bemitleiden. Auch als der Peinlichkeitsfaktor endgültig ausgereizt scheint, legen Mando Diao noch eine Schippe drauf. Unvermittelt komplettiert ein vollends deplatzierter Rastafari die Band und versucht penetrant zum Klatschen anzuregen. Dabei will klatschen kaum jemand mehr, eher weinen vor Fremdscham. Da hilft es auch nicht, dass Gustaf stetig poetische Offenbarungen à la „Der Himmel hat heute die Farben der schwedischen Flagge“ von sich gibt oder das Publikum fortwährend mit „Baby“ anspricht.
Was Mando Diao ihr „Dance With Somebody“ ist den Kings of Leon die Formatradio-Hymne „Sex On Fire”. 2008 bzw. 2009 leiteten diese Tracks die Charts-Ära beider Bands ein, während sich die Followills musikalisch trotz Mainstreamisierung aber noch weitestgehend treu geblieben sind, tauschten die Schweden ihren makellosen Gitarren-Rock gegen obskures Synthie-Geplänkel und Esoterik-Shows.
Ob die Nashviller Familiensippe sich im Anschluss an Mando Diao also besser schlägt und dem Headliner-Slot gerecht wird? Gute Voraussetzungen haben sie jedenfalls: die Sonne ist inzwischen untergangen, vor der Centerstage ist kein Zentimeter Platz mehr frei. Cousin Matthew Followill bespielt zwischendurch seine Gitarre mit dem Mund, viel mehr Spannendes passiert bei dem soliden Auftritt der Amis aber nicht. Der heimliche Star des Konzerts ist die LED-Show: waren die Lichteffekte bei allen vorangegangenen Acts bescheiden, wird jetzt richtig aufgefahren. Kitschig-effektvolle Visuals flimmern über die Bildschirme. Neben der gegenüberliegenden Bühne, auf der gerade die Editors zugange sind, erhellt ein Feuerwerk den Nachthimmel. Magic Moment.
Höchste Zeit dennoch Richtung Alternastage aufzubrechen, ehe die ersten Klänge des unsäglichen „Sex On Fire“ erklingen und sich das Publikum in einen mitgrölenden Chor verwandelt. Gerade noch rechtzeitig abgehauen, denn jetzt betreten Josh Homme und seine Kollegen von Queens of the Stone Age das Geschehen. Stoner Rock at its best mit einem erhabenen Frontmann und die originelle Lichtshow verleiten dazu, nochmal alle Kräfte zum Pogen und Stagediven zusammenzunehmen.
Der Freitag des letzten Rock am Rings auf dem Nürburgring neigt sich dem Ende zu. Unschlagbares Wetter, perfekte Organisation und ein exquisites Line-Up hinterlassen viele selige Gesichter. Der aktuelle Betreiber der Rennstrecke plant 2015 mit dem neuen Festival Grüne Hölle an den Start zu gehen. Leicht wird er es angesichts der dieses Jahr vorgegebenen Messlatte definitiv nicht haben.