Foto: Christoph Eisenmenger

Sonne satt Sodom & Gomorrha – So war’s beim Hurricane Festival 2014

Gerade nach Hause gekommen, den Staub aus Augen und Nase gepult, Tinitus auf beiden Ohren und jetzt nur einen Wunsch: Zurück zum Hurricane Festival? Geht leider nicht, aber dank unserem Nachbericht könnt ihr zumindest nochmal so richtig in Nostalgie baden oder als Daheimgebliebene erfahren, was euch während der drei Tage in Scheeßel so alles entgangen ist.

Das Hurricane ohne einen zünftigen Tornado, Windstärke 12 und kontinuierlichem Platzregen? Was im Vorfeld unmöglich schien, wurde dieses Wochenende Realität. Das liebgewonnene Festival auf der Motorrad-Sandrennbahn bewies, dass es auch ohne tropische Wirbelstürme auskommt und erinnerte seine Besucher stattdessen daran, dass es auf einer Staubwüste gelegen ist, die bei ausbleibendem Regen der Sahara Konkurrenz macht. Die besten Voraussetzungen also, um ein Wochenende lang alle Befindlichkeiten ruhen zu lassen, der Hygiene eine lang ersehnte Auszeit zu gönnen und sich ganz dem Rock’n’Roll respektive Dreck hinzugeben. Schließlich wird man ja belohnt: mit dem wohl exquisitesten Festival-Line-up des Jahres.

Dass The Naked And Famous ihren Auftritt dank schlechtem Playback angeblich gänzlich versemmelt haben und Angus und Julia Stone bereits am frühen Nachmittag bei der White Stage für Einlassstopp sorgen, wissen wir nur dank Hörensagen. In dieser Zeit drehen wir uns noch im komplett unübersichtlichen Schilder-Labyrinth rund ums Hurricane im Kreis und tingeln dabei durch so ziemlich jede Ortschaft im Landkreis Rotenburg. Wenigstens das ist eine jährliche Konstante, wenn schon das Wetter zum ersten Mal seit Jahren mitspielt.

Musikalisch beginnt der Freitag dann schließlich mit den Kooks. Ihr puristischer schwarz-rot Backdrop wirkt genauso solide und risikolos wie der Auftritt der Brightoner Barden auf der Green Stage. Ein bisschen „Ooh La“ hier, ein paar tighte Röhrenjeans da, fertig ist der Auftritt aus dem Indie-Kochbuch. Danach geht’s rüber zu Massenphänomen Casper auf die Blue Stage. Erstaunlich wie viel Zuspruch diesem Typen zuteil wird, den man zwei Mal die Woche beim Einkaufen in Friedrichshain trifft. Ästhetische Wald und Eiskristall-Visuals, ein hüpfender Rapper, das Publikum verausgabt sich bis in die letzten Reihen. „Hundertmillionenfach Danke“ sagt der Bielefelder, wir ziehen trotzdem weiter zu Arcade Fire.

Im direkten Zuschauer-Quantitätsvergleich müssen die Kanadier zwar das Nachsehen haben, qualitativ übertreffen sie aber nicht nur ihre Show zwei Tage zuvor in der Wuhlheide, sondern auch fast alles, was das Hurricane dieses Wochenende sonst so zu bieten hat. Der aktuellen Disco-Platte steht die Dunkelheit einfach besser zu Gesicht als das Dämmerlicht der Zitadelle in Berlin, es glitzert, reflektiert und funkelt allerorts, Win Butler und Régine Chassagne schmachten sich Orpheus und Eurydike-like an. Kontrastprogramm auf der Blue Stage: US-Rapper Macklemore und Produzent Ryan Lewis stehen auf den Festivalplakaten als Headliner, sind dem 90 Minuten-Slot mit gerade einem Album und einer EP aber nicht ganz gewachsen. Egal, dann wird halt der größte Hit „Can’t Hold Us“ zwei Mal gespielt.

 

Samstag: Midsommar und Spielstand, my ass

Nach der nicht nur im astronomischen Sinne kürzesten Nacht des Jahres, lohnt sich eine Stippvisite zur neu eröffneten, Hurricane-eigenen LIDL-Filiale. Dank niemals versiegender Bier-, und Tetrapack-Quelle, sind nicht nur die Tage des mühsamen Schleppens von drei Wasserkanistern und fünf Kilo Grillkohle gezählt, auch den Kater lässt sich dank frischem Obst und Co. gut bekämpfen.

Los geht es am Samstag mit dem Newcomer-Geheimtipp The Preatures im White Stage-Zelt. Ihr Hit „Is This How You Feel“ läuft schon diverse Indie-Radio-Stationen rauf und runter und macht auch live Laune. Wäre Sängerin Isabella Manfredi bloß nicht ganz so affektiert und überheblich, bliebe der Auftritt des australischen Quintetts noch positiver im Gedächtnis.

Etwas weniger lasziv, dafür aber umso sympathischer gibt sich die nächste weibliche Frontfrau auf der Red Stage: Mette Lindberg von Asteroids Galaxy Tour lässt einen auch den einzigen längeren Regenschauer des Festivals vergessen, erhält Unterstützung von mittanzenden Securities und gibt zur allgemeinen Freude einen neuen Song namens „Hurricane“ zum Besten. Ihre bekannte Debütsingle „The Sun Ain’t Shining No More“ verbannt die dänische Funk-/Pop-Band aus der Setlist, würde inhaltlich aber auch so gar nicht passen, schließlich gibt die Sonne am Ende des Auftritts wieder ihr Bestes.

Ein Blick auf die Uhr verrät: Gleich ist Anpfiff im Duell Ghana vs. Deutschland. Das weckt Erinnerungen zu Nada Surf 2006. Deren Auftritt wurde damals auf die Länge der Halbzeit des WM-Achtelfinales Deutschland gegen Schweden verkürzt. Fanden viele Festivalbesucher nur so semi gut, denn Fußballgucken kann man auch zuhause. Sehen die Festivalbetreiber diesmal auch so, daher kommt das Hurricane dieses Jahr ohne nervende „Schlaaand“-Rufe und Live-Übertragung aus. Bei den Pixies ist der Zuschauerraum trotzdem nur halb gefüllt. So traurig es ist, am Bolzen liegt es vermutlich nicht, eher an dem Problem, mit dem auch schon New Order vor zwei Jahren zu kämpfen hatten: der Großteil des jungen Publikums hat von den Grunge-Veteranen noch nie im Leben gehört. Dafür sind die Fans, die gekommen sind, umso begeisterungsfähiger. Sänger Black Francis verzichtet komplett auf Ansagen, die neu dazu gekommene Bassistin Paz Lenchantin sogar auf einen BH. Einige Schilder fordern Ex-Frontfrau Kim Deal zurück, spätestens als sich Joey Santiago in einem furiosen Gitarrenspiel aller Saiten seiner Klampfe entledigt und trotzdem weiterspielt, verstummen auch die letzten Nörgler.

Deutschland befindet sich auf dem Rasen derweil im Rückstand, Kraftklub scheißen drauf und feuern eine Holi-Farbenshow ab, der auch die Pixies-Anhänger etwas abgewinnen können. Danach geht es Schlag auf Schlag, die vollgepackte Running-Order erlaubt keine Ermüdungserscheinungen.

Die Post-Rocker von Interpol lösen die Pixies auf der Blue Stage an und kredenzen in Anzügen und latentem Bürokaufmänner-Charme wunderschönste Indie-Melancholie. Danach schnell rüber ins Zelt zum Franzosen Kavinsky und noch seinen Über-Hit „Nightcall“ abgreifen. Das Gehetze hat sich gelohnt, in College-Jacke und mit bedrohlich roten Katzenaugen lässt sich der DJ und Produzent nach der Darbietung minutenlang abfeiern. Zu Recht.

Innerhalb von fünf Minuten von der White Stage zur Red Stage? Challenge accepted! Immerhin neigt sich das Konzert der Schwedin Lykke Li dem Ende zu, die samt Glitzerjacke in Nebelschwaden und Herzschmerz-Lyrics versinkt.

Nun aber schnell zum letzten Act des heutigen Abends, für „Sheezus“ gilt es 1 ½ Stunden lang die Blue Stage zu beschallen. Im Latex-Dress, neongelben Pumps und mit pinken Haaren entert die sehr britisch aussende Zweifach-Mama Lily Allen die Bühne, umrahmt von selbstironischen Baby-Nuckelflaschen und Tänzerinnen in ultra kurzen Shorts. Warum man sie zu solch nachtschlafender Stunde gebucht hätte, wundert sich die Londonerin – das harte Los des Headliners. Lily Allen erfüllt ihre Rolle perfekt, auch wenn nicht ihr Auftritt, sondern der der dänischen Metaller Volbeat mit einem Feuerwerk gekürt wird.

Sonntag: Würdiger Abschluss für drei Tage Wahnsinn

Der Hangover von letzter Nacht ist zwar unerträglich, wettertechnisch glänzt das sonst nicht gerade begünstigte Städtchen in Norddeutschland aber weiterhin auf voller Linie. Fast möchte man meinen, es wäre es das normalste der Welt, beim Hurricane nicht im Morast zu versinken.

Über das Gelände legt sich eine gigantische Staubwolke, von der alle Poren der Besucher sicher noch länger etwas haben werden. Den Anfang machen Metronomy, die in strahlend weißen Anzüge unter ebenso strahlend blauem Himmel die „English Riviera“ nach Scheeßel holen und ihren Fans pflichtbewusst den Gebrauch von Sonnencreme nahe legen.

Die White Lies beweisen im Anschluss, dass theatralische Gesten auch in sengender Hitze funktionieren – inzwischen ist es schon so warm, dass die Securities die vorderen Reihen mit Wasserschläuchen abkühlen. Für wen die Musik der britischen Post-Punk-Band angesichts der Uhrzeit doch etwas zu melodramatisch daherkam, der wird bei Franz Ferdinand aus seiner Lethargie geweckt. Balloons und aufblasbare Krokodile fliegen durchs Publikum, Alex Kapranos steigt auf die Boxen, Nick McCarthy intoniert in perfektem Deutsch „Erdbeermund“, der letzte Tag des Hurricanes ist stimmungstechnisch auf seinem vorläufigen Höhepunkt.

The Black Keys können das Spaß-Niveau nicht ganz halten, die LSD-Bildschirme fallen während ihrer Show zwischendurch aus, ansonsten zeigen sie befremdliche Slow-Aufnahmen von Publikum und Band. Optisch irgendwie weird, musikalisch routiniert-lustlos. Schade!

Jetzt liegt es an Moderat auf der White Stage den Abend trotz Headliner-Konkurrenz in Form der Kapelle Seeed gebührend ausklingen zu lassen. „Hört ihr uns eigentlich oder hört ihr nur Seeed?“ fragt Apparat alias Sascha Ring besorgt. Die Angst ist unbegründet, das ganze Zelt tanzt zu „Bad Kingdom“ und verdrängt erfolgreich die Tatsache, dass das Hurricane 2014 nun zu Ende ist. Was bleibt, sind wundervolle Erinnerungen an ein Festival, von dem wohl noch Jahre später als dem Hurricane mit dem besten Wetter gesprochen werden wird.